Rassehundezucht – Fortschritt und Extremismus contra alte Werte?
„Die Schäferhundezucht ist Gebrauchshundezucht, muss immer Gebrauchshundezucht bleiben, sonst ist sie keine Schäferhundezucht mehr“. „Alles, was nicht der Gebrauchshundezucht dient, dient auch nicht der Schäferhundezucht.“
Klare Worte des Begründers Max von Stephanitz. Nun fragt man sich, was das denn mit Retrievern zu tun hat? Beobachtet man die Zucht von Schäferhunden in den letzten 120 Jahren, so tun sich trotz dieser klaren Formulierung der Rassegrundlagen (erschreckende?) Parallelen auf. Die Klugheit und Vielseitigkeit des nach diesen Grundgedanken gezüchteten Schäferhundes machten ihn damals schon, wie Retriever heutzutage, in allen Bevölkerungsschichten zum beliebten Begleiter. Neben seiner ursprünglichen Verwendung vielfältig eingesetzt als Wach-, Sanitäts-, Film- und Sporthund, blieb der Gebrauchshundegedanke lange im Vordergrund. Durch die wachsende Beliebtheit und die im Verhältnis dazu sinkende Anzahl gebrauchsmäßig geführter Hunde entstand jedoch ein Ungleichgewicht und daraus Priorisierung optischer Merkmale – welches soweit führte, daß sich in Deutschland mittlerweile ein eigener Zuchtver-band (unter VDH/FCI) gegründet hat, dessen primäres Augenmerk auf „der Erhaltung des Deutschen Schäferhundes als Gebrauchshund“ liegt… eigentlich also jenem Schwerpunkt, auf dessen Basis die ge-samte Zucht der Rasse beruhen sollte! Der SVÖ hat ebenfalls bereits Maßnahmen für neue Zucht- und Ausbildungsstrategien erarbeitet – „sollte dafür jedoch keine Mehrheit innerhalb des Vereines gefunden werden, sollte man mit Deutlichkeit und Klarheit eine durchgehende Trennung der zwei Populationen „Schau“ und „Leistung“ durchführen.“ (Auszug aus „100 Jahre SVÖ – 1912-2012“).
Ersetzt man nun die Definition „Gebrauchs“hund durch „Jagd“hund, kann man diese Entwicklung 1:1 auf Retriever übertragen. Durch die ebenfalls wachsende Beliebtheit steigt die Nachfrage, sinkt jedoch das Verständnis für und Wissen um den Rasseursprung. Nach welchen Kriterien wird diese Nachfrage nun bedient? Welche Prioritätensetzung haben heute Züchter? Welche Qualifikation, um eine Jagdhunderasse zu züchten, die ihre guten Eigenschaften und Vielfältigkeit der frühen Selektion auf diese Werte verdankt? Wer sich nach einem Retriever umsieht, wird leider nicht umhin kommen, das im Einzelfall zu hinterfragen. Nicht jeder Züchter muß mE. dafür selbst aktiver Jäger sein, solange er sich der notwendigen Eigenschaften und der Rassegrundlagen bewußt bleibt! Die verbreitete Einstellung, daß Retriever „so sind, wie ihr Ruf und sie es auch bleiben, egal wie man selektiert“ ist eine gefährliche!
„Hundezucht muß „Liebhaberzucht“ sein, sie kann nicht wie andere Tierzucht berufsmäßig, des Broter-werbs wegen betrieben werden.“ Ebenfalls ein Ausspruch von Max von Stephanitz. Nunja, Broterwerb ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen, ein gewisses Zubrot bleibt jedoch bei den aktuellen Welpenpreisen der Retriever, die sich mit kaum einer anderen Jagd- oder Gebrauchshunderasse vergleichen lassen – ebenfalls ein Ausfluss der großen Nachfrage. Was meines Erachtens bei entsprechender Zuchtqualität (in allen Bereichen!) und Aufzucht selbstverständlich legitim ist – nicht jedoch, wenn mit (unter)durchschnittlichen Hunden gezüchtet wird, die gerade die Mindesterfordernisse der Zuchtzulassung erfüllen. Liebhaberzucht wird wohl immer auch noch zu oft verwechselt damit, seine eigene Hündin ja so lieb zu haben…
Viele andere Rassen haben schon bewiesen, daß die Entfernung vom ursprünglichen Zuchtziel und auch das Streben nach immer stärkerer Ausprägung von im Standard festgelegten, gewünschten Merkmalen (oder deren komplette Vernachlässigung) Extreme fördert. Das hat noch keiner Rasse gut getan. Werte wie „Ausgewogenheit“ und „Brauchbarkeit“ haben heute einen negativen Klang – man interpretiert, zu wenig von allem Erwünschten für Sieger zu haben, es vermittelt ein Durchschnittsgefühl, Mittelmaß. Schade, denn diese Werte sind es mE., die Homogenität fördern und daraus langsame Optimierung der Rasse hinsichtlich Gesundheit, Leistung und Typ (natürlich inklusive Wesen) zuläßt.